Ver-rückt



Den Einkaufskorb dicht an sich gepresst, drängte sich Esmeralda durch die Menschenmenge, die den Wochenmarkt bevölkerte. Ihre Einkäufe hatte sie erledigt, und wollte nur noch schnell nach Hause. Den Blick fest gerade aus gerichtet, ignorierte sie die Blicke, die ihr viele zuwarfen.
Unvermeidlich war es jedoch, die getuschelten Bemerkungen zu überhören, die überall, wo sie vorbei kam, fielen. Das dabei am meisten vorkommende Wort - verrückt - ließ sie ihren Kopf noch höher tragen.

Endlich in ihrem Häuschen am Rande des Dorfes angekommen, ließ sie ihren Gefühlen beim Verstauen der Vorräte freien Lauf.

"Verrückt - ha!" schrie sie den Kohlkopf in ihren Händen an. "Verrückt meinst du!" Bumm - landete er in der für ihn bestimmten Holzkiste. Jedes Teil des Einkaufs bekam etwas ab, bis zum Schluß die Gurken ein "Ich zeig euch schon, was verrückt ist" erhielten, und die Milch dann bereits mit einem überschäumenden Gelächter begleitet wurde, als sie in ihre Kanne gegossen wurde.

Der Heiterkeitsausbruch nach der anstrengenden Tirade hatte Esmeralda endgültig erschöpft, sie ließ sich auf die bequeme Bank in ihrer Stube fallen.

"Na, Loki", sie steckte den Kopf unter den Tisch. "Hast dich doch wohl nicht von meinem Ausbruch verschrecken lassen?" Dieser Aufforderung nicht widerstehen könnend, landete der riesige, rote Kater, mit dem Esmeralda ihr Haus teilte, auf ihrem Schoß. Mit dem ihm einzigen, nach einem Kampf mit einem Hund, verbleibenen Auge blinzelte er sie an, begann zu schnurren und machte es sich bequem.

Am nächsten Tag, kurz vor Morgengrauen, wanderte Esmeralda in den Wald. Weitab vom Dorf, da wo der Wald am tiefsten war, fanden sich immer die schönsten und größten Pilze, da sich hierher kaum wer wagte.

Den Korb schon fast voll, wollte sie, bevor sie den Heimweg antrat, noch ein wenig die Ruhe und den Frieden des Waldes genießen. Sie suchte sich eine moosige Stelle, auf einer Lichtung, die von der Sonne beschienen wurde, und machte es sich dort gemütlich. Während sie dem Wald lauschte, wanderten ihre Gedanken zum Verhalten der Dorfleute ihr gegenüber. Die sie alle mieden, wo es nur ging, und sie für verrückt erklärten. Tränen stiegen ihr in die Augen, ja, manchmal merkte sie, das sie nicht so war, nicht so dachte und fühlte, wie die anderen Leute im Dorf. Vielleicht war sie ja wirklich verrückt, wahnsinnig. Doch wie sollte sie das ändern, wie ihre eigenen Gedanken, Gefühle, ihr ganzes Sein ändern, um normal zu sein. Esmeralda begann bitterlich zu schluchzen. Sie wünschte sich so sehr, das die anderen sie verstünden, dann bräuchte sie nicht so zu sein wie sie. Sie tat doch niemanden etwas. Weinend saß sie im Moos.

"Verrückt ist verrückt ist verrückt!"

Die scharfe Stimme hinter ihr ließ sie hochschrecken. Hinter den Tränenschleiern nahm sie undeutlich eine seltsame Gestalt wahr, die sich ihr näherte.

"Was heulst du da rum?"

Esmeralda trocknete ihre Tränen und sah nun, das vor ihr eine alte, etwas gebückte Frau stand. Diese hatte, ebenso wie sie, einen Korb voller Pilze bei sich. Doch die meisten davon kannte sie nicht. Und die, die sie kannte, hätte sie nicht genommen, da sie als giftig bekannt waren.

"Also Mädel, was heulst du hier rum? Das hat noch keinem geholfen, sich selber leid zu tun. Entweder willst du normal werden, oder du willst heil werden. Entscheide dich!"

Verblüfft entfuhr es Esmeralda "Heil werden natürlich".

Die Alte lächelte zufrieden. "Gut", sagte sie, "heute Nacht ist Vollmond. Geh auf den Kalvarienberg hinter dem Dorf. Rauf zur Kapelle. Hinter der Kapelle, da wo das kleine Stück Wiese ist, bevor der Wald beginnt, findest du einen Zauberpilz. Begrüße ihn und bedanke dich bei ihm, das er dort auf dich gewartet hat. Bitte ihn, dir zu helfen. Dann grabe ihn ganz vorsichtig aus, sodass auch noch etwas von dem Myzel dabei ist. Iss ein kleines Stückchen seines Hutes, ein kleines Stückchen seines Stammes und etwas von dem ausgegrabenen Myzel. Den Rest des Pilzes packe in ein schwarzes Leinentuch.
Bedanke dich nochmals und dann gehe unverzüglich nach Hause, ohne dich umzublicken. Lege dich in dein Bett und schlafe. Nach dem Aufwachen wirst du heil sein."

Sie lächelte Esmeralda an. "Und nun spute dich, das du noch vor Einbruch der Nacht beim Dorf bist, der Pilz wartet nur bis Mitternacht auf dich. Und lass dich durch nichts beirren, was immer dir auch begegnen mag."

Die letzten Worte klangen noch in Esmeraldas Ohren, als die alte Frau vor ihren Augen verschwand.

Ein Blick auf den Himmel zeigte ihr, das tatsächlich die Sonne schon viel weiter gewandert war. Hatte sie wirklich soviel Zeit im Wald verbracht?

Rasch packte sie ihren Korb und eilte zum Dorf. Unterwegs wirbelten die Gedanken nur so durch ihren Kopf. Als sie bei ihrem Häuschen ankam, dämmerte es schon. Eillig stellte sie den Korb mit Pilzen in die Vorratskammer und nahm sich ein Stück schwarzes Leinen, aus dem sie eigentlich einen Beutel zu machen vorhatte. Um zum Kalvarienberg zu gelangen, mußte sie auf die andere Seite des Dorfes, und dann noch ein hübsches Stück wandern. Ihr war, als würde es viel rascher dunkeln wie sonst, und deshalb sputete sie sich, denn es war ein langer Weg, und sie hatte nur bis Mitternacht Zeit. Gut, das der Mond so hell schien, und ihr den Weg leuchtete.

Der Kalvarienberg war nicht ein Berg in dem Sinne, sondern nur ein etwas höherer Hügel, mit abgeflachter Kuppe. Auf dieser Kuppe wuchs noch einmal ein Hügelchen, und auf diesem Hügelchen stand eine alte Kapelle, der drei große Eichen Gesellschaft leisteten. Auf halben Weg oben, stieß Esmeralda auf eine unsichtbare Wand. Sie konnte oben die Kapelle sehen, jedoch kam sie kein Stück mehr vorwärts. "Unheimlich" durchfuhr es sie. Dennoch wollte sie weiter und da sie die Wand nicht sehen konnte, tastete sich mit den Händen entlang. Ein ganzes Stück links von ihrem vorigen Weg hörte die Wand endlich auf, und sie konnte weiter nach oben steigen. Als Esmeralda schon fast bei der Kapelle war, konnte sie im Mondlicht die Büsche, die rund um diese wuchsen, erkennen, als wäre es heller Tag. Links und rechts von den drei Eichen, die direkt vor dem Eingang zum Kirchlein standen war jeweils ein bisschen Abstand zu den Büschen, so dass die Pforte im vollen Mondlicht erstrahlte. Die gute Sicht gab ihr ihre Sicherheit zurück, und Esmeralda wollte direkt neben der Kapelle vorbei hinter den Hügel, um zur kleinen Wiese zu gelangen.

In dem Moment, wo sie sich dazu entschloß, erklang ein helles Kichern direkt zwischen den Eichen. Esmeralda erschrak so sehr, das sie wie erstarrt stehen blieb. Wer trieb sich da mitten in der Nacht, noch dazu mitten im Wald, herum. Keine Menschenseele aus dem Dorf traute sich nachts so tief in den Wald. Und was hätte hier auch jemand um diese Zeit zu suchen gehabt. Während sie noch überlegte, hörte sie die Kirchturmuhr des Dorfes weit entfernt 11 mal schlagen. Keine Zeit, hier noch lange zu warten.

Ohne den Blick von der Stelle zu lassen, überlegte Esmeralda. Entweder sie holte sich den Zauberpilz, oder sie gab auf. Nein! Sie wollte heil werden! Dann würde sie eben einen Bogen machen und um den kleinen Hügel herumgehen So schnell würde sie sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Zwar waren ihre Knie so weich, das sie dachte, sie könne keinen einzigen Schritt machen, dennoch bewegten sich ihre Beine Schritt für Schritt. "Lass dich durch nichts beirren", murmelte sie vor sich hin, "lass dich durch nichts beirren." Plötzlich erklang wieder ein helles Kichern, diesmal aus den Büschen, an denen sie gerade vorbei ging. Das konnte nicht sein. Bei dem hellen Mondlicht wäre es ihr nie entgangen, wenn jemand von den Eichen zu den Büschen gegangen wäre.

"Was bin ich nur für eine Närrin", schimpfte sie innerlich mit sich, " mich hier in der Nacht bösen Geistern auszusetzen. Wie oft habe ich den Geschichten zugehört von Wanderern, die kein Bett für die Nacht fanden, und denen von Waldgeistern und Dämonen übelst mitgespielt wurde." Trotz dieser Gedanken umrundete sie den Hügel, und kam zu der kleinen Wiese.
"Nun bin ich schon hier, nun kann ich auch den Zauberpilz suchen"
Sie blickte sich um.
"Hm, so ein kleiner Pilz, wie soll ich den bloß sehen?" Noch während sie dies dachte, sah sie gerade in ihrer Blickrichtung einen rötlichen Schimmer auf der Wiese. Neugierig ging sie darauf zu. Da stand er, der Zauberpilz. Ein rotes Leuchten ging von ihm aus. Esmeralda staunte und freute sich gleichzeitig.

"NEIN"

Eine dröhnende Stimme erschallte aus den Büschen, die zwischen ihr und der Hinterfront der Kapelle, standen.
Angst durchfuhr Esmeralda, sie sank auf die Knie, direkt vor dem Zauberpilz. Mit bebenden Lippen begrüßte sie ihn, bedankte sich für sein Warten und erbat seine Hilfe. In den Büschen begann es zu rauschen und zu knacken. So zittrig ihre Hände waren, so flink waren sie auch, als Esmeralda den Pilz ausgrub. Ohne auf etwas zu achten, das rund um sie vorging, brach sie ein Stückchen von seinem Hut und nahm es in den Mund. Mit geschloßenen Augen kaute und schluckte sie, ebenso vom Stiel und vom Myzel. Als sie den letzten Bissen geschluckt hatte, erstarben alle Geräusche um sie und sie öffnete die Augen. Der Mond strahlte noch viel heller wie zuvor, ein sanfter Wind umstrich sie und streichelte ihr Gesicht. Esmeralda fühlte sich so ruhig wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie packte die Reste des Pilzes in das schwarze Leintuch und stand auf. Mit raschen Schritten näherte sie sich der Kapelle und genau an der Stelle, wo zuvor die Stimme hergekommen war, zwängte sie sich durch die Büsche und ging zur Vorderseite der heiligen Stätte. Von dort genoß sie den friedlichen Ausblick vom Hügel auf das hell erleuchtete Umland. In dem Moment flog von hinten ein Ast bei ihr vorbei. Sie erinnerte sich der Worte der alten Frau "Bedanke dich nochmals und dann gehe unverzüglich nach Hause, ohne dich umzublicken" Esmeralda rief ein lautes Danke in die Nacht. Dann begab sie sich eilends auf den Heimweg, der klar und hell erleuchtet vor ihr lag.

Zu Hause angekommen, schloß Esmeralda ohne sich umzublicken den dicken Nebel, der die Nacht erfüllte aus.

Am Morgen, nach dem Aufwachen, ihren Gefährten Loki im Arm, trat Esmeralda vor die Türe. Die Sonne strahlte vom Himmel. Sie war heil.